Inzwischen wissen wir es. Die schönen weissen Blumenkohlwolken welche über uns hinwegziehen verdanken wir Paluhuala, der in der Frühzeit die Seile der zusammengebunden Wolken mit einer hacha zerhackt hat. Seit dann treiben sie nun in den Passatwinden endlos um den Globus.
Nicht nur die Wolken über den perfekt Ansichtskartensujets entsprechenden Palmenstrandinseln haben es uns angetan. Wir versuchen auch die Kultur der hier noch so ursprünglich lebenden Indianer zu verstehen.
Hier also ein kurzer (naja, für ein Blog schon eher langer…) Abriss des aktuellen Standes der Dinge. Wobei je nach Dorfgemeinschaft die Traditionen mehr oder weniger orthodox befolgt werden.
Es beginnt mit dem Namen. Es heisst Kuna Yala statt San Blas – jemand respektloser hat schon vor längerer Zeit ihren schönen Namen geändert *. Doch schon vor den fürchterlichen Eroberungszügen der Spanier vor 500 Jahren waren die Kuna Indianer hier. Denn Iberogun – Gott der Kuna’s – hat die Welt, die Natur, die Lebewesen erschaffen. Von seinem Lebensbaum stammt alles ab, die Kuna’s, die Fische, die Inseln, das Wasser, die Passatwolken. Seit Generationen wird diese Evolutionsgeschichte mündlich weitergegeben, in welcher sich religiöse mit ganz praktischen Angaben mischen.
Jedes Dorf wird im congreso, dem Gemeindehaus, gelenkt. In der Mitte der grossen, mit Palmwedeln bedeckten Hütte baumeln in Hängematten die Sailas. Diese leiten die Gemeinschaft spirituell wie politisch. Um sie herum sind Holzbänke für das gemeine Volk angebracht. Mehrmals pro Woche tagt die Volksversammlung, der congreso. Die Teilnahme ist für alle obligatorisch, wird in kleinen persönlichen Büchlein penibel kontrolliert – und bei zu vielen Absenzen wird man gebüsst.
Bei den Tagungen des congreso werden von den Saila’s in monotonen Gesängen die Religion, Geschichte und Mythen weitergegeben. Aber es werden auch aktuelle Probleme vorgebracht, diskutiert und am Schluss fällt der weise Saila seine Entscheidung. Muss Saila 1 – der eigentliche Vorsteher – mal weg, dann übernimmt Saila 2, oder dann Saila 3. Somit gibt’s auch drei Hängematten. Ihnen zugeordnet sind auch drei Interpreten, welche die manchmal verwirrlichen Geschichten aus der Frühzeit in die heutige Zeit „übersetzten“.
Die Saila’s werden demokratisch gewählt und können – was zwar selten passiert – vom Dorf auch wieder abgesetzt werden. Ihre Entscheidungsgewalt ist enorm. Der Saila schlichtet Konflikte, verwaltet das gemeinschaftliche Budget, bestimmt Arbeitseinsätze, Bussen, Steuerabgaben und erteilt Bewilligungen aller Art: zur Heirat (normalerweise nur unter Kuna’s), zum Reisen (nach Panama City oder auf die nächste Insel), zum Bauen, Fischen, Studieren oder wirtschaftlichen Aktivitäten. Ohne Saila läuft gar nichts im Dorf. Denn die religiöse und die politische Macht ist, ähnlich wie im Islam, vereint in einem einzigen Führer, dem Saila.
Die Saila’s aller Dörfer treffen sich im Congreso Nacional. Dieser wiederum wählt drei Saila’s, die Cacique’s, welche die Kunas im nationalen Parlament von Panama vertreten. Ein induktives demokratisches System welches an jenes vom kommunistischen Kuba erinnert. Kuna Yala hat zudem eine weitgehende Autonomiestatus innerhalb von Panama, was sich in vielen Freiheiten (beispielsweise zahlen sie keine Steuern…) und ganz wenigen Pflichten gegenüber Panama ausdrückt.
Für die Gesundheit sorgen Schamane oder auch ein paar wenige Kleinspitale. Die Geschlechtsreife de jungen Frauen wird mit einem grossen Dorffest – la chicha. Ein botellón a la Kuna wo stets alle erklärtermassen sturzbetrunken zu enden haben. Die Anleitung dazu kommt von Iberogun und wird in der Evolutionsgeschichte detailliert weitergegeben. Die Frauen haben im congreso dasselbe Mitbestimmungsrecht wie die Männer und sind letztendlich auch das Herz der Familie. Heiratet ein Mann so zieht er immer ins Haus der Frau. Auch ist sie es welche die Finanzen kontrolliert – eine Art Matriarchat.
In den meisten Dörfern gibt es Primarschulen, der Unterricht ist bilingual spanisch – kuna. Ab dem 10. Schuljahr muss man jedoch nach Panama City, falls man weiter zur Schule oder Studieren will. Auf einer dieser vielen Mini – Inseln haben wir eine Familie getroffen welche dort ganz alleine lebt. Ihre beiden Kinder gehen nicht zur Schule. Wie auch, wenn man bloss ein Einbaum mit Paddel hat und die Schule 15 Seemeilen entfernt ist?
Erst seit ein paar Jahren verbindet eine einzige holprige Landstrasse die Region Kuna Yala mit dem restlichen Staatsgebiet von Panama. Obwohl alles Teil von Panama gibt es dazwischen eine Grenzkontrolle. Die ist nachts geschlossen und für Kuna’s nur mit Bewilligung des Saila’s zu überschreiten. Verlässt man Kuna Yala um definitiv in Panama City zu arbeiten so gibt es – je nach Orthodoxie des saila’s – oft auch kein zurück mehr. Man wird quasi ausgebürgert. 75% der Kunas leben so inzwischen ausserhalb ihres Stammesgebietes. Bei der urbanen Dichte der Dörfern auf den putzig kleinen Inseln hat dies aber durchaus auch ganz praktisch Gründe.
Wie uns ein jüngerer Kuna erzählte hat man nicht gross darüber nachgedachte, dass eine Strasse immer eine Verbindung in zwei Richtungen darstellt. So können die Kuna’s nun nicht bloss leichter ihre Produkte in Panama City verkaufen, was das hauptsächliche Argument war als man die Strasse gebaut hat. Denn heute kommen so neben viele Touristen auch ganz unverhofft der moderne westliche Lebensstil ins zuvor so abgeschottete Land.
Dies alles erklärt uns Saila Arturo als er uns auf unserer Yacht besucht. Wir bewirten ihn stammesgerecht mit tortilla española, jamón und vino tinto, derweilen Saila Arturo weise erklärt und wir demütig nachfragen. Für weitere Details überlässt er uns eine fünfzigseitige handgeschrieben Evolutionsgeschichte der Kuna’s**. Später besuchen wir auf der isla Maquina einen gerade tagenden congreso und sprechen dort auch lange mit dem Dorflehrer Miliciano – so können wir die Informationen kontrastieren.
Wir versuchen zu verstehen, doch ehrlicherweise gelingt es uns trotz allen Bemühungen nur teilweise. Warum? Einerseits weil wir ja nicht als Kuna’s geboren sind und so kaum in ein paar Stunden ihre Kultur verstehen können und wohl auch immer mit unserem westlich geprägten Verstand interpretieren. Andererseits weil sich uns zunehmend Inkonvergenzen auftun.
Wie definiert die Kultur eines Volkes? Vielleicht durch spezifische Traditionen, Mythenbildungen und Legenden, kollektive Feinbilder, Sprachen, politische Systeme? Versuchen wir es mal: In der Schweiz also Jodel, Rösti und Käse mit Löchern, Tell und Winkelried, die bösen übermächtigen Habsburger oder Europäer, scheinbar 500jährige Volksdemokratie, aber keine einigende Sprache. Die Katalanen mit Sardanes, Caganets und Calçots, natürlich San Jordi, der Kampf gegen böse übermächtige Drachen oder „Madrid“, 500 Jahre Demokratie im  Consell de Cient, das Katalanische als einigende Sprache. Die Kuna’s mit Molas (mit aufwändigen Mustern gestickte Stoffe), Iberogun, der heroische Kampf gegen die Spanier und Panamanesen, die Volksdemokratie seit Menschengedenken im congreso und den Sailas, und auch das kuna als einigende Sprache. Die These scheint also zu klappen.
Die Kultur der Kuna’s zu erhalten scheint also zweifelsfrei ehrenwert zu sein und wir als Reisende freuen uns auch über das pittoreske, andersartige Ambiente und das intakte Ökosystem. Auch wenn man zunehmend vom Tourismus profitiert – in den Buchten mit (zu-) vielen Yachten, auf einigen Inseln mit kleinen im traditionell Stil gebauten Restaurants und Bungalows – die Natur über und unter dem Wasser scheint völlig intakt geblieben zu sein. Auch haben die Kuna’s erfolgreich verhindert, dass hier wie in anderen Regionen Panamas grosse internationale Tourismusfirmen ansässig werden. Also keine amerikanischen oder spanische Hotelklötze, keine protzigen Marinas. Kaum wo in der Karibik wurde dies mit einer solchen Konsequenz erreicht. Die Natur ist intakt, das Business ist in den Händen der Kuna’s und stetig ziehen die Passatwolken über uns dahin.
Doch: Die Sujets der Mola’s haben sich in den letzten Jahren verändert. Früher waren es noch völlig abstrakte Muster, heute erscheinen auch Papageien und Samichläuse. Verkauft sich einfach besser.
Wenn Kultur zur Folklore mutiert läuft etwas schief.
Denn alles hat auch hier seinen Preis: Langosten werden auch in der Schonzeit verkauft, hundertjährige Grosi’s darf man für 2 USD abfotografieren, angeschwemmte Kokainpäckchen werden unreflektiert der kolumbianischen Drogenmafia zurückverkauft und der Saila verteilt die Einnahmen dann via congreso dem ganzen Dorf. Und selbst für’s eigenhändige abfotografieren der Evolutionsgeschichte müssen wir dem Saila 20 USD „spenden“. Verständlich, doch ist so diese Kultur noch zu halten?
Geht es um Kulturerhalt oder um die Verhinderung von Wissen und Fortschritt? Sind die Saila’s Don Quijotes?
Neben den mit Palmblättern gedeckten Hütten sind Solarpanele, Satellitenschüsseln und Energiesparlampen auszumachen. Die jungen Kuna’s telefonieren mit ihren Mobiles, surfen im  Facebook, schauen amerikanische TV Serien, haben nun auch dröhnende Lautsprecher in der Hütte stehen, sind Barça- oder Real- Fans und kleiden sich wie Neymar. Lieber eine lancha mit einem 100 PS Ausserborder statt einen langsamen Einbaum. Fischer zu werden oder ein Leben lang Molas zu sticken wird für sie wohl kaum noch der grosse Lebenstraum zu sein.
Weiss darauf der Saila wirklich eine Antwort?
*  Mira el excelente retrato sobre las kunas en el libro del vueltamundista español Miguel Rodriguez Larrosa; OCEANOVI – relatos de una vuelta al mundo; Ediciones Mendrugo. En España se vende en las librerÃas de Altaïr.
** La historia de la antigüedad de indios de San Blas después del tiempo de diluvio universal
Eindrücklich: auch im Paradies, das Unaufgelöste. Der Beobachter, der eben immer auch Beeinflusser ist. Wir sind Teil der Welt, wirken und hinterlassen Spuren. In Kuna Yala und im Zürcher Kantonsrat. Und doch Unterschiede: während der Saila erst zuhört und dann einen weisen Entscheid fällt, hört die konservative Einheitspartei SVPFDPCVPEDUPDP gar nicht erst hin und weise sind ihre Entscheide ebensowenig.
Martin
PS. Ob die Sailas im Matriachat auch Frauen sind bzw. sein können, fragt sich der Europäer?