Seit Tagen zwickt es mich schon in den Augen. Schneide eine Grimasse vor dem Spiegel, setze einen coolen Blick auf. Wie wir das alle tun, wenn wir uns allein und unbeachtet wissen. Sperre die Augen weit auf, rotunterlaufen sind sie. Schütte nochmals Augentropfen nach. Doch es hilft nicht wirklich.
Denn er ist überall. Auf jeder Fläche, in jeder Ritze. Egal ob Holz, Plastik, Stoff. Das Deck ist überzogen mit dieser feinen, flüchtigen Schicht, das blaue Bimini, die Reling, die Displays der Navigationsinstrumente. Alles ist Ocker abgetönt. Als hätte man einen jener Instagram-Filter über die Realität gezogen. Doch dies hier ist echt. Der Staub aus der nahen gelegenen Wüste. Er deckt einfach alles zu. Das Schiff, die Häuser, die Strassen, die Kamele, meine Augen.
Trotz diesen Widrigkeiten ist das Segeln im Roten Meer voll von Abenteuern. Unter diesem bräunlichen Schleier verführen viele Korallenriffe zum Tauchen. Liegen Fischer mit klapprigen Booten neben uns in den Buchten. Begegnen wir liebenswürdigen Arabern, welche hier die Küste besiedeln. Fliegen die Seevögel durch die dunstige Luft.
Stets ist die Küste noch auszumachen. Auf diesem Kurs segelt man nicht mehr wirklich auf Hochsee. Meist sind eindrücklich hohe Berge und davor liegende mysteriöse Dünen-Landschaften auszumachen. Bei viel Wind, also fast immer, versinkt das Land hinter einem Schleier aus staubigem Dunst. Die Landschaft erscheint mystisch, nur vage wahrzunehmen. Ich stelle mir vor, was da sein könnte. Geheimnisvoll erahnend, ohne zu wissen, ob es denn auch wirklich so sei.
Der Staub der nahen Sahara verhindert die klare Sicht, selbst die Sonne mag ihre roten Strahlen beim Untergang nicht mehr zu uns rüberschicken. Mal mehr, mal minder aufgewirbelt wird der Sand zu uns getragen. So segelt man quasi in der Wüste. An Land. Ergriffen vom Spektakel der komplementären Gegenwelt zur See.
Wir treffen auf einsame Inseln. Flach und langgezogenen. Aus hart komprimiertem Sand. Ondulierend gehts rauf und runter. Mit Imma spazieren wir lange dahin. Ja, sie ist wieder an Bord. Wir erzählen uns, wie es uns in den langen getrennten Monaten ergangen ist. Es fühlt sich oft an wie bei einer ersten Verabredung. Doch bald schon weicht dieses etwas befremdliche Gefühl, wir spüren ganz verwundert wieder unsere alte Vertrautheit. Besprechen, was wir nun anders machen werden. Wie schön es ist, wieder wie eh und je gemeinsam um die Welt zu segeln.
Beim Ausflug nach Kairo stehen wir vor den eindrücklichen Giza-Pyramiden. Wir versuchen, diese unbegreifliche Baukunst zu verstehen, beschäftigen uns mit den vielen Deutungsversuchen. Wie konnte man diese enorme Masse von Riesensteinen bloss aufeinanderschichten? Viele Jahrhunderte vor Christus, ohne Baukran und Baggerschaufeln. Aber auch an ihnen nagt der Zahn der Zeit, sie zerfallen gleich wie die nebenan stehenden Sphinx-Skulpturen. Da bricht eine Nase ab, dort fällt ein Brocken runter. Langsam, aber unerbittlich. Nichts hält ewig. Dies habe ich auch auf der Tuvalu gelernt.
Über die Jahrhunderte von den Sandstürmen attackiert, wurde alles langsam, aber stetig vom Sand wieder zugedeckt. Wie eine sanfte Decke legte der Staub sich über die geschichtsträchtigen Monumente. So schien eines Tages einfach alles vergessen, ausgelöscht. Verhüllt, unsichtbar, zerfallend im Erdreich. Die Hochkultur der Pharaonen, einfach ausgelöscht. Trotz der aufwendigsten Bemühungen, sich unsterblich zu mumifizieren, bis in die Ewigkeit zu überleben. Was für ein groteskes Scheitern. An alles haben sie gedacht, bloss nicht an den Wüstenstaub.
Ich erinnere mich, wie ich dann und wann als Bub bei meiner Tante Astrid in Winterthur verweilen durfte. Ein riesiges Haus von einem wilden Garten umgeben. Endlose Zimmerfluchten, unzählige Nippsachen ohne jeglichen Gebrauchswert aus einem vergangenen Jahrhundert. Längst hat man das Abstauben gelassen, wozu auch? Und viel zu viel Arbeit! Neunzigjährig sitzt meine zerknitterte Tante umhüllt vom undurchdringlichen Rauch ihrer Zigaretten im grün-beigen Ohrensessel. Offeriert mir die steinharten selbst gebackenen Weihnachtsguetzli der vorletzten Weihnacht. Wäre das Haus nicht längst abgerissen, sässe sie immer noch dort. Mumifiziert. «Zur Einsamkeit» hiess das Anwesen.
Meine lange Reise um die Welt kommt nun auch langsam zu Ende. Das Mittelmeer ist schon nahe. Oder soll ich einfach endlos weiter segeln? Bis ich allein, vergessen von Allen und Jahre nach meinem Tod mumifiziert am Kartentisch aufgefunden werde? Ashes to ashes. Zumindest hätte ich dann bis zum bitteren Ende mein Ding durchgezogen.
Oder ich komme an, irgendwie. Finde das Ende, welches ja bei einer Weltumseglung stets der Beginn ist. Barcelona, wohl. Zurück ins bürgerliche Leben. Ich erschrecke, doch noch ist es nicht so weit. Zerfallen dann meine Jahre auf See langsam, aber stetig auch in kleinste Einzelteile? Ins Unbedeutende, Ausdruckslose. Ins Vergessene? Überdeckt von einer feinen Schicht aus Staub, bis sie unauffindbar geworden ist. Bis ein Archäologe sie vielleicht nach ewiger Zeit wieder ausgräbt, versucht, die Fundstücke zusammen zu fügen und zu deuten, was da mal war.
Wohl deshalb schreibe ich. Ein verzweifelter, unweigerlich zum Scheitern verurteilter Versuch, der Vergessenheit ein Stück Ewigkeit abzuringen, meine Sicht auf die Dinge zu erhalten. Nicht in Staub zersetzt zu werden.
Hurghada, Ägypten, April 23
Wo ist die Tuvalu zur Zeit? Aqui: aqui
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