Da stürzt er sich hinunter. Die Kante scharf, der Turm hoch, der Abgrund tief. Unter ihm nur, harter Fels, ein paar Bäume. Vor ihm die leicht gekräuselte Oberfläche des Meeres, weit, tiefblau und Hoffnung verheißend. Nur weg will er, denn hinter ihm tobt die Schmach und Verachtung verbreitende Horde, angestachelt vom Agitator. Wild brüllend haben sie ihn auf den Turm gejagt. Was haben sie nur gegen ihn? Ihn, der so friedlich ist, wie es ihm scheint. Keine Chance zurückzubleiben, sich irgendwo zu verstecken, auch wenn er vor Angst zittert. Er schließt die Augen, verlässt sich auf die von seinem Vater mit Wachs verklebten Flügel und stürzt sich in die Tiefe. Wie niemand vor ihm. Sackt leicht ab, auch wenn die Achseln stechen, spürt bald den Halt der aufsteigenden Thermik. Was unmöglich schien, gelingt. Man muss es nur wollen. Darauf vertrauen, dass es klappt.
Erleichtert dreht er langsam seine Kreise. Atmet tief durch, denkt an die Albatrosse, spürt die Aufwinde. Ein Leben lang kreisen sie. Denn sind sie erst einmal wieder am Boden, können sie sich kaum mehr lösen. Noch einmal zurückblicken, auf die fassungslose Horde der Hooligans am Rand. Hinaus in die Unendlichkeit. Die Gedanken sind leer, das Hochgefühl unübertrefflich, das Glücksgefühl tief, jede Angst verflogen. Immer kleiner wird das Land, die Küste Kretas.
Ein Gefühl absoluter Ruhe macht sich breit. Das leise Rauschen des Windes, das beruhigende Plätschern der Wellen, die tief unter ihm vorbeiziehen, da kreuzt eine Möwe seinen Kurs. Die Sonne streichelt sanft seine Haut, seine Gedanken sind leer, nur das Hier und Jetzt zählt. Nach Norden, oder wohin auch immer. Hauptsache vorwärts und hinter sich lassen, was war, immer weiter könnte es gehen. Endlos. Warum auch ankommen?
Da erblickt er eine langgestreckte Insel, an deren Südküste sich ein kleiner Hafen an die steil aufragenden Felsen schmiegt, dort schaukelt ein Segelschiff vor Anker. Auf seinem Rumpf steht Tuvalu. Wie seltsam, das ist doch eine Insel im Pazifik. Schon so zeitlos weit gekommen? Aber was soll’s, Hauptsache vorwärts, dorthin, wo man ihn liebt, was man wohl Heimat nennt. Der Frühsommer blendet, er spürt die zarte Wärme der Sonnenstrahlen an seinen Fingern, dann schon durchströmt sie seinen ganzen Körper, sanft ist das Schweben, die Natur, seine Seele.
Fast unbemerkt fliegt eine kleine weiße Feder an ihm vorbei. Wie eine von den seinen. Er dreht noch eine Runde, hoch oben vor der Insel, und schon wieder eine. Jetzt sind es schon mehrere. Es tropft an seinen Händen, der Körper jetzt wachsverklebt, und schon wirbelt er herum, versucht wild mit den Armen auszugleichen, was alles nur noch schlimmer macht. Kurz darauf rast er wie ein Kartoffelsack nach unten, die Augen tränen, das blonde Lockenhaar weit nach hinten geweht, dem großen Blau entgegen, oben ein wirres Gefieder, Ikaria im Rücken spürend, den Aufprall fürchtend. Noch zwanzig Meter, zehn, fünf, zwei, eins. Großer Gott. Plötzlich wird alles schwarz, die kalte Umgebung, nur das erstickende Wasser, Atemnot, das Gehirn, wo bin ich, nur Schmerz und Verzweiflung fühlend. Alles ist vorbei.
Das Meer, das ihn verschlingt, rülpst kurz auf, kreisende Wellen, die sich pulsierend ausbreiten, bald ist alles wieder glatt. Silbrig glänzend rauscht die Oberfläche im Wind, vergessen, als wäre nichts gewesen.
SEHR SCHÖN! Und tiefgründig wie immer, wenn du in den Schreibfluss gerätst. Und wunderbar auch, dass ihr euer Tuvalu-Leben wieder mit uns teilt.